Emotionale Konfrontation (HNA, 09.11.2018)
Heimatforscher Völker blickte mit Edertalschülern auf die Pogrome zurück
Es ist mucksmäuschenstill in der Kulturhalle der Edertalschule. Aufmerksam hören die Schüler Karl-Hermann Völker zu und gedenken dabei der Pogrome vor 80 Jahren. Der Heimatforscher erzählt, was im November 1938 in ihrer Schule und in Frankenberg passierte. Schulleiter Claus-Hartwig Otto hatte den Vorsitzenden des Frankenberger Geschichtsvereins und früheren Lehrer eingeladen. Bei seinem Vortrag wird Völker von Lucie Keßler und Seema Tahan unterstützt. Die Schülerinnen geben jüdischen Zeitzeugen eine Stimme. Dadurch schwindet die Distanz zu den historischen Ereignissen. „Unsere Leute waren an den gewaltsamen Ausschreitungen beteiligt oder von ihnen betroffen“, sagt Keßler. So auch der Jude Josef Kaiser, der am Untermarkt in Frankenberg lebte. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde er, wie viele jüdische Männer, von Mitbürgern ins Gefängnis des Frankenberger Amtsgerichts verschleppt und dann ins Konzentrationslager (KZ) Buchenwald gebracht. Dort fand sich auch Julius Bachenheimer aus Röddenau wieder. Er wurde, wie die meisten, zwar wieder entlassen, war aber aufgrund der erlittenen Misshandlungen ein gebrochener Mann. Bachenheimer starb wenige Wochen nach seiner Rückkehr an den Folgen seines KZ-Aufenthalts. Während der Gedenkfeier spielt Tim Depner spontan improvisierte Melodien auf dem Flügel, die zur bedrückten Stimmung, die die Beiträge verbreiten, passen.
Für seine Rolle als musikalischer Begleiter wurde der 17-Jährige von Musiklehrer Matthias Müller vorgeschlagen. Besonders bewegt die Schüler, dass auch Kinder und Jugendliche aus Frankenberg sich an den gewaltsamen Ausschreitungen gegen Frankenberger Juden im November1938 beteiligten. „Menschen in unserem Alter“, sagt Gwen Geenen. Diese besuchten damals ebenfalls die Edertalschule und scheuten nicht davor zurück, Fensterscheiben einzuwerfen und an der Zerstörung der Frankenberger Synagoge mitzuwirken. „Wir können uns gar nicht vorstellen, was damals passiert ist“, sagt Keßler. Sie und ihre Mitschüler erfahren, dass es nicht nur in größeren Städten wie Kassel zu Pogromen gegen Juden kam, sondern auch die Synagogen in Korbach, Gemünden und Marburg brannten. Umso wichtiger sei es, sagt Karl-Hermann Völker, solche Anfeindungen künftig zu vermeiden und für Demokratie, Menschenwürde und Freiheit einzutreten.
Jährliches Gedenken geplant
Insgesamt sind laut Karl-Hermann Völker 770 Menschen im Landkreis Waldeck-Frankenberg während des Nationalsozialismus ermordet worden, 39 von ihnen stammten aus Frankenberg. Diesen Menschen gelang es nicht, wie Moses Buchheim aus Frankenberg, dem Deutschen Reich zu entfliehen. Der Viehhändler schaffte es 1940 als einer von wenigen, in die USA auszuwandern. „Ich fand den aufklärenden Vortrag gut, er veranschaulicht das, was in den Schulbüchern steht noch mal besser“, sagt Gwen Geenen zu der Gedenkfeier. Der Experte hat 1963 Abitur gemacht und sagt: „Wir wussten damals nichts über die Nazi-Zeit.“ Das hat sich inzwischen geändert. Sowohl in der Mittelstufe als auch in der Oberstufe ist der Holocaust Teil des Lehrplans, sagt Burkhard Wick, Fachsprecher Geschichte an der Edertalschule. In den Fächern Religion und Politikwissenschaft werden weitere Aspekte des Nationalsozialismus aufgegriffen. Beispielsweise rechtsextreme Strömungen in der Gegenwart. „Wir wollen das Gedanken an die Novemberpogrome vor 80 Jahren in unsere Schulkultur aufnehmen und ein Konzept entwickeln, wie wir als Schule mit den gewaltsamen (ciz)
Das sagt:
Sophia Greis (16)
„Der Vortrag hat mich betroffen gemacht, weil er über Vorfälle in Frankenberg und Umgebung ging. Das Ausmaß der Pogrome ist mir bewusst, weil wir das Thema Nationalsozialismus schon in der neunten Klasse hatten.“
Gwen Geenen (16)
„Ich habe mit meinem Uropa schon über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen. Er spricht aber nicht gerne darüber. Sich an das zurückzuerinnern, was damals passiert ist, nimmt ihn sehr mit.“
Phoebe Moldan (16)
„Auch Schüler der Edertalschule waren an den Ausschreitungen gegen die Juden beteiligt. Wenn wir zu der Zeit gelebt hätten, hätten wir uns aufgrund der damals üblichen Erziehung auch nicht anders verhalten.“
Seema Tahan (17)
„Es ist wichtig zu wissen, was damals passiert ist – genau hier, wo wir leben. Die Pogrome im November 1938 gegen die jüdische Bevölkerung machten auch nicht vor Kleinstädten wie Frankenberg halt.“